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Herr und Knecht

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IX

Nachdem Wasili Andrejitsch sich zu dem Schlitten hingeschleppt hatte, hielt er sich an ihm fest und stand lange so da, ohne sich zu rühren, bemüht, sich zu beruhigen und wieder zu Atem zu kommen. Nikita befand sich nicht mehr an seinem früheren Platze; aber im Schlitten lag etwas, was schon ganz mit Schnee bedeckt war, und Wasili Andrejitsch erriet, daß das Nikita sei. Wasili Andrejitschs Furcht war jetzt vollständig verschwunden, und wenn er jetzt etwas fürchtete, so war es eben nur jener entsetzliche Angstzustand, den er auf dem Pferde und namentlich damals, als er allein in der Schneegrube zurückgeblieben war, durchgemacht hatte. Um keinen Preis durfte er es dahin kommen lassen, daß ihn diese Angst von neuem überfiel, und damit sie ihn nicht überfalle, durfte er nicht an sich selbst denken, sondern er mußte an etwas anderes denken, mußte etwas tun. Und daher stellte er sich zunächst mit dem Rücken gegen den Wind und machte seinen Pelz auf. Dann, sobald er ein wenig zu Atem gekommen war, schüttelte er den Schnee aus den Stiefeln und aus den Handschuhen. Hierauf band er sich seinen Gurt von neuem um, und zwar fest und tief unten, so wie er sich zu umgürten pflegte, wenn er aus seinem Laden heraustrat, um das von den Bauern gebrachte Getreide vom Wagen zu kaufen; so gürtete er sich auch jetzt zur Vorbereitung auf seine Tätigkeit. Das erste, was ihm nötig schien, war, das Bein des Pferdes frei zu machen. Das tat Wasili Andrejitsch denn auch, und nachdem er den Zügel unter dem Fuße des Pferdes hervorgezogen hatte, band er den Braungelben wieder an die eiserne Krampe am Vorderteile des Schlittens, am alten Fleck, und trat nun von hinten an das Pferd heran, um an ihm den Umlaufriemen, das Rückenpolster und den Sack in Ordnung zu bringen. Aber in diesem Augenblicke sah er, daß sich im Schlitten etwas bewegte und Nikitas Kopf sich aus der Schneedecke erhob. Der Knecht brachte es offenbar nur mit großer Anstrengung fertig, sich aufzurichten und hinzusetzen; darauf machte er mit der Hand ganz seltsame Bewegungen vor seiner Nase, wie wenn er da Fliegen wegjagen wollte, und sagte etwas; wie Wasili Andrejitsch meinte, rief er ihn zu sich heran.

Wasili Andrejitsch ließ den Sack, wie er war, ohne ihn zurechtgelegt zu haben, und trat zum Schlitten hin.

„Was willst du?“ fragte er. „Was sagst du?“

„Was hast du denn? Sind dir die Glieder erfroren?“ fragte Wasili Andrejitsch.

„So ist es recht, Bruder! Beinah wäre ich ins Verderben geraten. Du wärest erfroren, und ich wäre …“

„So handeln wir!“ sagte er zu sich selbst und empfand dabei eine ganz eigenartige feierliche Rührung. So lag er ziemlich lange Zeit schweigend da, wischte sich die Augen an dem Pelzwerk ab und stopfte den rechten Pelzschoß, den der Wind immer wieder zurückschlug, unter sein Knie.

„Nikita!“ rief er.

„Na, siehst du wohl! Und da redest du von Sterben! Lieg ganz still und wärme dich! So handeln wir …“ begann Wasili Andrejitsch zu reden.

„Na, das schadet nichts,“ dachte er. „Ich weiß doch selbst über mich, was ich weiß.“ Und er verstummte.

„Mir ist wohl, mir ist warm,“ erscholl es von unten als Antwort.

„Keine Bange; das werde ich schon zurechtbekommen!“ sagte er bei sich selbst in bezug darauf, daß es ihm gelingen werde, Nikita warmzuhalten, mit derselben Ruhmredigkeit, deren er sich bei seinen Käufen und Verkäufen zu bedienen pflegte.

„Ich … ich … ster … sterbe, nun … ist's da,“ brachte Nikita mühsam in Absätzen heraus. „Meinen Arbeitslohn … geben Sie meinem Jungen … oder meiner Frau … ganz gleich.“

„Ich fühle … der Tod kommt … Verzeihen Sie mir … wenn ich Ihnen Übles getan habe … um Christi willen,“ sagte Nikita mit weinerlicher Stimme und fuhr dabei unaufhörlich mit den Händen vor seinem Gesichte umher, als wollte er Fliegen wegscheuchen.

„Das hat mich ja gehörig angegriffen, ich bin ganz schwach geworden,“ dachte er bei sich. Aber diese Schwäche war ihm nicht unangenehm; im Gegenteil, sie rief in ihm ein ganz besonderes Gefühl der Freude hervor, wie er es bisher noch nie kennen gelernt hatte.

Wasili Andrejitsch stand etwa eine halbe Minute lang schweigend da, ohne sich zu rühren; dann trat er plötzlich mit derselben Entschlossenheit, mit der er bei einem vorteilhaften Kaufe dem Verkäufer den Handschlag zu geben pflegte, einen Schritt zurück, streifte die Ärmel seines Pelzes auf und machte sich daran, mit beiden Händen den Schnee von Nikita und aus dem Schlitten wegzuscharren. Nachdem er dies ausgeführt hatte, machte Wasili Andrejitsch eilig seinen Gurt auf, schlug den Pelz auseinander, drückte Nikita durch einen Stoß, den er ihm versetzte, nieder und legte sich dann auf ihn, so daß er ihn nicht nur mit seinem Pelze, sondern auch mit seinem ganzen warmen, erhitzten Körper bedeckte.

Und weiter sah und hörte und fühlte Wasili Andrejitsch in dieser Welt nun nichts mehr.

Und er erwacht; aber nun er erwacht ist, ist er ein ganz anderer als der, welcher er beim Einschlafen war. Er will aufstehen und kann es nicht; er will den Arm bewegen, er kann es nicht; das Bein, auch das kann er nicht. Er will den Kopf umdrehen; auch dazu ist er nicht imstande. Er ist darüber erstaunt, aber in keiner Weise betrübt. Er begreift, daß das der Tod ist; aber auch darüber grämt er sich nicht im geringsten. Er erinnert sich daran, daß Nikita unter ihm liegt und warm geworden ist und lebt, und es kommt ihm vor, als wäre er selbst Nikita, und Nikita er selbst, und als steckte sein Leben nicht in ihm selbst, sondern in Nikita. Er strengt sein Gehör an und hört Nikitas Atmen, ja sogar ein schwaches Schnarchen desselben. „Nikita lebt; also lebe auch ich,“ sagt er triumphierend zu sich selbst. Und eine ganz neue Empfindung, eine Empfindung, die er in seinem ganzen Leben noch nicht gekannt hat, überkommt ihn.

So lag Wasili Andrejitsch lange, lange. Anfangs zogen ihm Gedanken an diejenigen Dinge durch den Kopf, die vor seinen Augen umherzitterten: an den Schneesturm, an die Deichselstangen, an das Pferd unter dem Krummholz; und er dachte an Nikita, der unter ihm lag. Dann mischten sich Erinnerungen an das Fest hinein, und an seine Frau, und an den Landkommissär, und an den Kerzenkasten, und wieder an Nikita, der nun unter diesem Kasten lag. Dann sah er Bauern vor sich, welche verkauften und kauften, und weiße Wände und Häuser mit Blechdächern, und unter den Häusern lag wieder Nikita. Dann verwirrte sich das alles miteinander, eines ging in das andre über, und wie die Farben des Prismas sich zu dem einheitlichen weißen Lichte verbinden, so flossen alle diese verschiedenen Eindrücke in ein einziges Nichts zusammen, und er schlief ein. Lange Zeit schlief er, ohne zu träumen; aber vor der Morgendämmerung stellten sich die Traumgesichte wieder ein. Es war ihm, als stände er bei seinem Kerzenkasten, und die Frau des Bauern Tichon verlange von ihm zum Feiertage eine Kerze für fünf Kopeken; er will die Kerze herausnehmen und ihr geben; aber er kann die Hände nicht heben; die stecken zusammengeballt in den Taschen. Er will um den Kasten herumgehen; aber seine Beine bewegen sich nicht, und die neuen, sauberen Gummischuhe sind an den steinernen Fußboden angewachsen, und er kann sie nicht in die Höhe heben, und auch die Füße kann er nicht aus ihnen herausziehen. Und auf einmal ist der Kerzenkasten kein Kerzenkasten mehr, sondern ein Bett, und Wasili Andrejitsch sieht sich mit dem Bauche auf dem Kerzenkasten liegen, das heißt auf seinem Bette in seinem Hause. Und so liegt er auf dem Bette und kann nicht aufstehen, und dabei muß er doch aufstehen; denn gleich wird ihn der Landkommissär Iwan Matwjeitsch abholen, und er muß mit Iwan Matwjeitsch hingehen, entweder um mit dem Gutsbesitzer um den Wald zu handeln, oder um dem Braungelben den Umlaufriemen in Ordnung zu bringen. Und er fragt seine Frau: „Nun? Ist der Landkommissär noch nicht gekommen?“ – „Nein,“ antwortet sie, „er ist noch nicht gekommen.“ Und er hört, daß ein Wagen sich der Haustür nähert. „Das wird er gewiß sein.“ – „Nein, es fährt vorbei.“ – „Mikolawna, du, Mikolawna, kommt er denn immer noch nicht?“ – „Nein.“ Und er liegt auf dem Bette und kann gar nicht aufstehen, und dieses Warten ist angstvoll und freudig zugleich. Da plötzlich eine große Freude: der, auf den er gewartet hat, kommt, und nun ist es gar nicht der Landkommissär Iwan Matwjeitsch, sondern jemand anders, aber doch gerade der, auf den er wartet. Er ist gekommen und ruft ihn bei seinem Namen, und der, welcher ihn da bei seinem Namen ruft, das ist ebenderselbe, der ihn vorhin angerufen und ihm geheißen hat, sich auf Nikita zu legen. Und Wasili Andrejitsch freut sich, daß dieser Jemand gekommen ist, um ihn abzuholen. „Ich komme!“ ruft er freudig. Und dieser Ausruf weckt ihn auf.

Mit den Händen stopfte Wasili Andrejitsch die Seitenteile seines Pelzes zwischen die Bastwand des Schlittens und Nikitas Leib, und mit den Knien hielt er den Saum des Pelzes fest; so lag er auf dem Bauche, mit dem Kopfe gegen die Wand des Vorderteiles gelehnt. Jetzt hörte er weder die Bewegungen des Pferdes noch das Pfeifen des Sturmwindes; er horchte nur auf Nikitas Atmen. Nikita lag anfangs lange da, ohne sich zu bewegen; dann seufzte er laut und rührte sich; offenbar fing er an warm zu werden.

Es war ihm warm, von unten her durch Nikita, von oben her durch den Pelz. Nur die Hände, mit denen er die Seitenteile des Pelzes rechts und links von Nikitas Körper festhielt, und die Füße, von denen der Wind fortwährend den Pelz zurückschlug, begannen ihm zu erstarren. Aber er dachte nicht an seine eigenen Glieder; er dachte nur daran, wie er den unter ihm liegenden Knecht warmhalten könne.

Er erinnert sich an sein Geld, an seinen Laden, an sein Haus, seine Einkäufe und Verkäufe und an Mironows Millionen, und es wird ihm schwer, zu begreifen, warum dieser Mensch, welcher Wasili Brechunow geheißen hat, sich mit all den Dingen beschäftigt hat, die in Wirklichkeit seine Beschäftigung gebildet haben. „Nun, er hat eben nicht gewußt, worauf es ankommt,“ dachte er mit Bezug auf diesen Wasili Brechunow. „Ich habe es nicht gewußt; aber jetzt weiß ich es. Jetzt weiß ich es ohne jeden Irrtum; jetzt weiß ich es.“ Und wieder hört er den Ruf dessen, der ihn schon einmal gerufen hat. „Ich komme, ich komme!“ antwortet freudig und gerührt sein ganzes Ich. Und er fühlt, daß er frei ist und nichts ihn mehr zurückhält.

Einige Male blickte er nach dem Pferde hin und bemerkte, daß dessen Rücken unbedeckt war und der Sack sowie der Umlaufriemen auf den Schnee herunterhingen; er sagte sich, daß er aufstehen und das Pferd zudecken müsse; aber er konnte sich nicht entschließen, Nikita auch nur für einen Augenblick zu verlassen und den freudigen Gemütszustand, in welchem er selbst sich befand, zu stören. Angst empfand er jetzt gar keine.

Aber weiter konnte er zu seiner größten Verwunderung nicht sprechen, da ihm die Tränen in die Augen traten und der Unterkiefer hastig zu zucken anfing. Er hörte auf zu sprechen und schluckte nur das, was ihm in die Kehle kam, hinunter.

Aber hier fingen ihm wieder die Kinnbacken an zu zittern, und seine Augen füllten sich wieder mit Tränen, und er konnte nicht weiterreden.

Aber er verspürte eine brennende Lust, jemandem etwas über seinen freudigen Gemütszustand zu sagen.

Ringsum tobte noch immer in gleicher Weise der Schneesturm. Unverändert wirbelte der Schnee und bedeckte den Pelz des toten Wasili Andrejitsch, und den am ganzen Leibe zitternden Braungelben, und den kaum noch sichtbaren Schlitten, und den warm gewordenen Knecht Nikita, der tief unten im Schlitten unter seinem nun toten Herrn lag.

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